Unser Nationalsekretär Hanns Sauter hat in der Zeitschrift „Gottesdienst“ zwei Artikel zur Ikonentheologie und zu einem österlichen Ikonenmotiv veröffentlicht. Dankenswerterweise haben wir die Erlaubnis erhalten, die Artikel auf unserer Website zu veröffentlichen. Hier der erste der beiden Beiträge, den zweiten finden Sie hier.


Bilder der Erlösung

Ikonen erfreuen sich auch in der Westkirche zunehmender Beliebtheit. Wie sind sie entstanden und welche Theologie verbirgt sich hinter ihnen?

Wereine Kirche der östlichen Tradition betritt – sei es in Griechenland, auf dem Balkan, auf Zypern oder auch in Mitteleuropa –, ist zunächst beeindruckt, vielleicht sogar erschlagen, von der Fülle der Bilder, die ihm dort geradezu entgegenkommt. Ikonen beherrschen den Raum, seien es Fresken oder Mosaike, die die Wände bis in die Kuppeln hinauf bedecken – sei es die Ikonostase mit ihren vielen Darstellungen, seien es weitere, die an den Wänden angebracht sind oder auf Pulten zur Verehrung liegen. Der Kirchenraum wird auf diese Weise geradezu zu einem „Anders-Ort“.

Dies ist auch beabsichtigt, denn – so der Anspruch – in der Kirche begegnen sich die irdische und die himmlische Welt, vereinen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Kirchenraum soll dies abbilden und die Menschen hineinnehmen in die Fülle göttlichen Lebens. Dies geschieht durch den Zusammenklang des Raums und seiner Ausgestaltung einerseits und die darin gefeierten Gottesdienste andererseits, bei denen wiederum Wort und Bild aufeinander bezogen sind: Das Wort Gottes, das in der Heiligen Schrift gegeben ist, wird feierlich gelesen oder gesungen, durch die Hymnen und Gesänge ausgedeutet und durch die Ikonen dem Betrachter vor Augen gestellt. Das gesprochene oder gesungene Wort, vor allem aber das Bild, stellen ihn vor das ganze Heilswerk Christi. Er begegnet aber auch den Menschen, die Jesus nachgefolgt sind und nun in seiner Welt leben. Diese Begegnung geschieht noch einmal und auf besondere Weise durch die Tages- bzw. Festtagsikone. Sie liegt auf einem Pult, das in der Mitte des Kirchenraumes vor der mittleren Türe der Ikonostase, der Königstüre, seinen Platz hat. Jeder, der die Kirche betritt oder zum Gottesdienst kommt, betrachtet und verehrt sie und vernimmt dabei ihre Botschaft.

Ikonen im Kirchenraum des Westens

Die Heimat der Ikonen ist zwar der christliche Osten, doch begegnen wir ihnen immer häufiger auch im Westen. Zumindest in Ballungszentren entstehen Gemeinden ostkirchlicher Riten mit ihren eigenen Kirchenbauten. Aber auch in katholischen und evangelischen Kirchen und Pfarrzentren sind häufig Ikonen zu sehen (zuweilen gibt es eigene Ikonenkapellen), und Ikonenausstellungen stoßen zunehmend auf Interesse. Ikonen sprechen zweifellos Menschen quer durch die Gemeinden, Konfessionen oder Generationen an und wirken gewissermaßen konfessions- und generationenverbindend. Intuitiv ist klar, dass es sich bei der Ikone um mehr, zumindest aber um etwas anderes handelt als um ein herkömmliches Bild. Was aber macht ein Bild zur Ikone?

Ikonen „schreiben“

Das Griechische kennt für Schreiben und Malen dasselbe Wort: graphé. Der Verfasser von Texten ist der Logographos, der Wortschreiber, der Schöpfer von Bildern der ≤em>Eikonographos, der Bildschreiber. Wort und Bild stehen also in einem inneren Zusammenhang, der noch einmal deutlicher wird, wenn wir von „Ikone“ und von „Bibel“ sprechen. Das griechische Wort eikón bedeutet schlicht und einfach „Bild“. Eine Ikone ist somit „das Bild“, wie die Bibel „das Buch“ bzw. „die Bücher“ (biblia) ist. Beides, Wort und Bild, wollen zu einer Wirklichkeit führen – im Kontext des Glaubens zu einer tieferen Wirklichkeit. So spricht Jesus, das menschgewordene Wort Gottes, in „Bildern und Gleichnissen“ (Mt 13,34 f.), wenn er seinen Zuhörern Grundlegendes vom Himmelreich erklären wollte. Um ins Zentrum des Glaubens zu führen, bediente sich bald auch die Kirche der Möglichkeit von Bildern. Dies war nicht unumstritten, denn gewichtige Argumente wie das alttestamentliche Bilderverbot sprachen dagegen.

Die Auseinandersetzung über den rechten Gebrauch von Bildern führte im 8. und 9. Jahrhundert zu einer vor allem im Osten mit äußerster Härte geführten Diskussion. Dabei ging es grundsätzlich um die Berechtigung, Möglichkeiten und Grenzen der Darstellbarkeit Gottes sowie von bildlichen Darstellungen des Heilsgeschehens und des Gebrauches von Bildern zur Verkündigung des Glaubens.

Beendet wurde die Auseinandersetzung im Jahr 843 durch ein Konzil in Konstantinopel, das entschied: Gott ist als der Eine und Dreifaltige nicht darstellbar, doch hat er den Menschen nach seinem Bild geschaffen. Insofern ist bereits der Mensch Ikone Gottes. Letztendlich aber ist es die Menschwerdung Jesu, der das Ebenbild des unsichtbaren Gottes ist und durch den sich der Vater zu erkennen gibt, die zu Bildern berechtigt (Kol 1,15; Joh 14,9). Von Jesus, der Gott und Mensch zugleich ist, kann ein Bild angefertigt werden, jedoch nur von seiner menschlichen Gestalt, seine göttliche ist nicht darstellbar. Wenn aber Jesus in menschlicher Gestalt gemalt wird, dann so, dass seine Göttlichkeit erfahrbar ist.

Ähnliches gilt für die Darstellung von Heiligen. Ist Jesus die Ikone Gottes, des allein Heiligen, so sind die Menschen, die Jesus nachgefolgt und ihm ähnlich geworden sind, Ikonen Jesu. Auch sie können dargestellt werden, doch muss die Darstellung das aufscheinen lassen, was der Mensch in den Augen Gottes ist: Bild Christi.

Über die Darstellbarkeit des Evangeliums hält das Konzil von Konstantinopel fest: Durch die Menschwerdung Jesu ist auch die Materie (denn der Mensch besteht auch aus Materie) geheiligt. Das gemalte Bild hat daher Anteil am Heiligen, und daher kann gemalt werden, was in der Heiligen Schrift steht – aber nur das und nicht mehr als das. Dabei muss allerdings berücksichtig werden, dass manche frühchristlichen Texte zunächst der Heiligen Schrift zugerechnet, später aber als apokryph eingestuft wurden. Auf die Ikonenmalerei hat sich das nicht mehr ausgewirkt.

Grenzen der Ikonenmalerei

Der Freiheit des Malers sind durch die Bestimmungen des Konzils von Konstantinopel Grenzen gesetzt. Er soll den Weg Gottes mit den Menschen darstellen und sich dabei an Gottes Wort halten. Er tritt hinter das zurück, was er vermitteln möchte: die Liebe Gottes zu den Menschen sowie das Zeugnis jener, die sich von dieser Liebe Gottes ergreifen ließen und daran während ihres ganzen Lebens mit allen seinen Höhe- und Tiefpunkten festhielten. Somit ist die Aufgabe des Malers, vom Augenscheinlichen in die Tiefe zu führen und dem Betrachter das Handeln Gottes zu erschließen. Dies wiederum setzt eine intensive Beschäftigung mit der Heiligen Schrift voraus. Je mehr der Maler aus ihr lebt, umso besser wird er wiedergeben können, was er gelesen hat, und umso eindringlicher anregen, sich mit dem Wort Gottes auseinanderzusetzen. Der Ikonenschreiber ist daher mit einem Prediger zu vergleichen. Dieser vermittelt Gottes Heilshandeln durch Sprache, jener durch Linien und Farben. Der Ikonograph ist daher nicht Schöpfer, sondern Vermittler.

Hier entwickelten sich die östliche und westliche religiöse Kunst auseinander. Vereinfacht kann man sagen, dass spätestens seit der Renaissance ein Künstler des Westens durch seine Kunst ausdrückt, was er empfindet, wenn er eine bestimmte Stelle des Evangeliums liest. Vielleicht möchte er biblische Geschichten erzählen oder einen Einblick in seine Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes geben. Dadurch schafft er Fantasievolles, Originäres oder Provokantes, aber auch Zeitgebundenes. Er regt zu weiterer Diskussion und Auseinandersetzung an. Gerade dies aber ist nicht die Aufgabe des Ikonenschreibers. Dieser soll vergegenwärtigen, was durch Jesus zu unserem Heil geschehen ist und immer neu geschieht, denn die Erlösung des Menschen ist kein einmaliges Geschehen der Vergangenheit, sondern vollzieht sich immer neu im Gebet und im Gottesdienst, vor allem in der Eucharistiefeier.

Gottes Wirken sichtbar machen

Anliegen der Ikonen ist somit einerseits, das Wirken Gottes für die Menschen sichtbar zu machen, andererseits ihn nach seiner Beziehung zu Gott zu fragen und ihn vor die Entscheidung zu stellen, ob er den Weg Jesu gehen möchte oder nicht. Deshalb schaut Christus als Pantokrator („Weltherrscher“) den vor ihm stehenden Betrachter an und hält ihm das Evangelium vor Augen. Szenen aus dem Evangelium, wie z. B. die Auferweckung des Lazarus oder der Einzug Jesu in Jerusalem, sind wiederum so gemalt, dass sich der Betrachter in die dargestellten Personen geradezu einreihen kann. Die Heiligen haben auf den Ikonen auch nicht zufällig eine nicht zu übersehende Nähe zum Pantokrator, denn sie sind Menschen, in denen Christus Gestalt angenommen hat (vgl. Gal 4,19). Sie schauen dem Betrachter in die Augen und stellen ihm die Frage: „Wer ist Jesus für dich?“

So machen die Ikonen bewusst: Was durch Jesus „für uns Menschen und zu unserem Heil“ geschehen ist, ist keineswegs Vergangenheit, sondern Gegenwart und ein Blick in die Zukunft. Die Anders-Welt des Kirchenraumes und das, was ihn ihm geschieht, vermitteln einen Eindruck davon.

Hanns Sauter

Hanns Sauter, geb. 1951, studierte Theologie in Würzburg und Wien sowie Caritaswissenschaften und christliche Sozialarbeit in Freiburg i. Br., seit 1982 tätig im Fachbereich Seniorenpastoral der Erzdiözese Wien vor allem im Bereich Begleitung und Fortbildung der pfarrlichen MitarbeiterInnen. Mitarbeiter in verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung (Altenbildung).

Quelle: Gottesdienst 2024, Heft 6-7, S. 78-79

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Bilder der Erlösung