Vom 21. Mai bis zum 28. Juli war es erstmals möglich, einem ganz besonderen „Besucher“ in Russland zu begegnen: Dem in der Ost- und Westkirche als Wundertäter und Nothelfer hochverehrten Hl. Nikolaus. Der Weg für diese einzigartige „Pilgerfahrt der Nikolaus-Reliquien“ aus Bari, das sie bislang noch nie verlassen hatten, nach Russland wurde beim historischen Treffen von Papst Franziskus mit Kirill, dem Patriarchen von Moskau und Ganz Russland, im Februar 2016 in Havanna auf Kuba geebnet.
Der 21. Mai wurde bewusst als Ankunftsdatum gewählt, ist er doch nach julianischem Kalender der Vigiltag des in der Russischen Orthodoxen Kirche gefeierten Festes der „Übertragung der Reliquien des hl. Nikolaus von Myra nach Bari“, wo sie sich seit 1087 befinden. Zum Schutz vor der Schändung durch seldschukische Muslime wurden sie aus Kleinasien nach Süditalien gebracht. In Bari wurde zu Ehren des Heiligen eine romanische Basilika errichtet, in deren Krypta die Gebeine nunmehr ruhen. Myron, eine Flüssigkeit, die sich im Reliquienschrein des Heiligen immer wieder neu sammelt und aus seinen Gebeinen fließen soll, zog seit jeher Pilger an seine neue Grablege. Für viele Russen ist er der wichtigste Heilige überhaupt; ein Hoffnungsträger, den sie um Beistand und Schutz bitten.
Der Tradition nach wurde Nikolaus am 14. Juni 295 auf den Bischofsstuhl von Myra, dem heutigen Demre, gewählt. Als Fürsprecher für das ihm anvertraute Gottesvolk und Verteidiger des wahren Glaubens hatte er unter der Verfolgung Kaiser Diokletians zu leiden. Auf dem Ersten Ökumenischen Konzil in Nizäa (325) trat er entschieden gegen die Irrlehre des Arius auf, der die Gottheit Jesu leugnete. Durch sein selbstloses Wesen „Christus-ähnlich“ geworden, setzte sich der Bischof unermüdlich für Arme, Hungernde, Verfolgte und unschuldig Gefangene ein. Besonders in Gefahr geratene Menschen „zu Wasser, zu Lande und in der Luft“ durften sich immer wieder seiner Hilfe erfreuen, was St. Nikolaus auch zum Schutzherrn der Reisenden werden lies.
Als am 21. Mai 2017 die Sondermaschine mit dem goldenen Reliquiar, das eine Rippe des Heiligen barg, auf dem Moskauer Flughafen landete, läuteten alle Kirchenglocken der Hauptstadt zum Zeichen großer Freude über die Ankunft der wertvollen Leihgabe. In einer spektakulären Prozession wurde der Schrein in die Christ-Erlöser-Kathedrale gebracht, wo Patriarch Kirill die Göttliche Liturgie zelebrierte. Seither waren die Gebeine in Moskau und St. Petersburg zur Verehrung ausgestellt. Etwa 2,5 Millionen Gläubigen sollen es gewesen sein, die aus ganz Russland, der Ukraine und Weißrussland bei Regen und Wind ohne Murren bis zu zwölf Stunden in der Schlange gestanden sind, um sich vor den Reliquien zu verneigen.
Kurienkardinal Kurt Koch, Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, führte die Delegation an, welche die Gebeine nun wieder nach Bari zurückgebracht hat. Er bezeichnete die Reliquien-Leihgabe sowie die Aufnahme durch das gläubige Volk in Russland als „großes ökumenisches Ereignis!“ Es sei „sehr wichtig, die Gläubigen im Einsatz für den Dialog einzubinden. Schön ist es, wenn Kirchenoberhäupter sich treffen, aber genau so wichtig ist es, dass dies auch das Kirchenvolk tut.“ Die zweimonatige „Pilgerfahrt“ des Hl. Nikolaus von 2017, so darf man wohl festhalten, hat wie schon die Begegnung der Kirchenoberhäupter in Havanna 2016 eine neues Kapitel in den Beziehungen zwischen der Katholischen Kirche und der Russischen Orthodoxen Kirche aufgeschlagen.
Diese Ikone, die sich am Aufbewahrungsort der Reliquien des Hl. Nikolaus in der Basilika von Bari befindet, zeigt ihn im liturgischen bischöflichen Gewand mit großem Omophorion (Stola). Häufig sind dem Bild des Heiligen Szenen beigegeben, die seine von zahlreichen Wundern begleitete Lebensgeschichte erzählen. Es begegnet auf diesen Ikonen auch der Titel „Wundertäter“. Ein solcher Titel mag manchem Zeitgenossen fremd und unzeitgemäß in den Ohren klingen. Kann man heute noch jemanden unbesehen als „Wundertäter“ bezeichnen? – Vielleicht liefern 2,5 Millionen Pilger, die sich innerhalb von zwei Monaten in Russland auf den Weg gemacht haben, um die Reliquien des hl. Bischofs von Myra zu verehren, den Beweis dafür, dass er immer noch am Werk ist und Wunder wirkt – das Wunder, dass Menschen (und getrennte Kirchen) aufeinander zugehen!
„Das russische Volk verehrt den Heiligen Nikolaus besonders, weitaus mehr als jeden anderen Heiligen. Er hilft Menschen im Leben, wie auch nach dem Tod, ganz gleich, wer sie sind. Im Gebet zu ihm finden Menschen Hilfe“, so Alexander Wolkow, der Pressesprecher von Patriarch Kirill. „Für einen Russen ist es wichtig, sich persönlich in physischer Entsagung zu üben, als eine Form des Martyriums. Wenn die Russen das Anstehen in einer Schlange auf sich nehmen, dann wissen sie, dass sie etwas für sich, für ihre Seele zurückbekommen werden. Das ist jenseits vernünftiger Überlegung, das liegt auf einer mystischen Ebene.“
Nikolaj Dorner OSB