Möglicherweise am 9. Juni 397 – aber gesichert ist dieses Datum nicht – starb Bischof Liborius von Le Mans im Nordwesten des heutigen Frankreich, und zu jener Zeit war kaum abzusehen, welche Wirkungsgeschichte er entfalten sollte.
Über sein Leben und Wirken ist wenig bekannt. Möglicherweise betrieb er während seiner fast 50-jährigen Amtszeit das, was man heute Strukturreform nennen würde: Mittlerweile ist gut erforscht, wie die Ausbreitung des Christentums vom Mittelmeerraum nach Norden zur Bildung großflächiger Diözesen und einer neuen Aufgabenverteilung zwischen Bischof, Presbytern (Priestern) und Diakonen führte. Es kann durchaus sein, dass Liborius diese Entwicklungen mitbeeinflusste.
Nicht einmal die Bedeutung des Namens Liborius ist geklärt, denn wir können nicht mehr rekonstruieren, ob es sich um einen Namen griechischen, lateinischen oder keltischen Ursprungs handelt.
Als Liborius starb, leitete sein Nachbarbischof und Freund Martin von Tours das Begräbnis. Es findet sich aber auch die umgekehrte Variante, wonach Martin durch Liborius bestattet wurde. Zumindest die Spuren Martins können wir besser nachverfolgen, wir kennen unter anderem seine Heimatstadt Savaria, das heutige Szombathely in Westungarn. In Le Mans wurde Liborius jedenfalls in ehrender Erinnerung behalten, darüber hinaus blieb er weitgehend unbekannt – ganz anders als Martin, eine der beliebtesten Heiligengestalten der Geschichte.
Wäre Karl der Große nicht gewesen, dann wäre Liborius ein lokal verehrter Heiliger geblieben oder – wer weiß? – vielleicht irgendwann in Vergessenheit geraten. Doch als Karl das Christentum im heutigen Norddeutschland durchsetzte, spielte die Verehrung von Reliquien eine entscheidende und identitätsstiftende Rolle. 799 war die Diözese Paderborn neu errichtet worden, 836 wurden die Gebeine des Liborius aus Le Mans nach Paderborn überführt. Eine spätere Überlieferung erzählt, ein vorausfliegender Pfau habe dabei den Weg gewiesen: So wurde der Pfau zu einem der Attribute des Liborius – neben einem Buch mit darauf liegenden Steinen, weil Liborius zum Patron bei Steinleiden avancierte.
Aus dem französischen Ortsbischof des 4. Jahrhunderts war damit der Diözesan- und Stadtpatron von Paderborn geworden, und hier setzt die große Wirkungsgeschichte ein. Der Bund zwischen den Städten und Diözesen Le Mans und Paderborn überstand die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, des Ersten und des Zweiten Weltkrieges und besteht bis heute fort; viele Paderborner Diözesanen wissen davon bis heute zu berichten. Das Liborifest Ende Juli zieht als kirchliches Fest und zugleich als Volksfest jährlich eine siebenstellige Besucherzahl nach Paderborn. Lieder und Gebete wurden Liborius gewidmet, und viele Kirchen in Paderborn und Umgebung sind ihm geweiht. Sogar der katholische Kalender musste angepasst werden: Das Fest der Birgitta von Schweden wird in Paderborn – anders als im Rest der katholischen Welt – erst am 24. Juli gefeiert, der 23. Juli hingegen war schon immer für Liborius reserviert. In Paderborn und dem umliegenden Westfalen ist Liborius auch ein verbreiteter Vorname. Darüber hinaus kennt man diesen Namen noch im bayerisch-fränkischen Raum, wo er aber nicht auf Liborius von Le Mans, sondern auf Liborius Wagner (†1631) zurückgeht.
Die Mönche des Klosters Maria Schutz in St. Andrä am Zicksee haben Liborius zu einem ihrer Schutzpatrone, besonders zum Patron der Berufungen und Novizen (Dokimi) bestimmt. Abt Paisios führt diese Entscheidung auf sein Gebet zum heiligen Liborius um Berufungen für das Kloster zurück: Mittlerweile wächst die Zahl der Mönche, und die Bruderschaft etabliert sich mehr und mehr.
Liborius als Patron eines orthodoxen Klosters in Österreich hat auch eine hohe symbolische Bedeutung: Dieses Patrozinium weist zurück in eine Zeit vor der Trennung von Ost- und Westkirche, Liborius ist eine echte ökumenische Heiligengestalt. Zudem ist Martin von Tours als Diözesanpatron von Eisenstadt gewissermaßen in seine pannonische Heimat zurückgekehrt, und so lebt die alte Freundschaft zwischen Martin und Liborius nun in katholisch-orthodoxem Gewand im Burgenland fort. Und war nicht gerade die Karolingerzeit eine Phase der dramatischen Entfremdung zwischen westlicher und östlicher Kirche, da es den Theologen und Philosophen des Westens kaum mehr gelang, das griechische Denken und beispielsweise das Bekenntnis zur Ikonenverehrung, das in Konstantinopel in heftigen Wirren ausdiskutiert wurde, positiv aufzugreifen? Wenn im 21. Jahrhundert Ikonen des heiligen Liborius geschaffen und verehrt werden und das katholische Paderborn den orthodoxen Mönchen in St. Andrä Liborius-Reliquien überlässt, dann wird Annäherung und Versöhnung zwischen zwei kulturellen Ausprägungen, die das Christentum in Europa angenommen hat, zeichenhaft erfahrbar und persönlich vertieft.
Liborius Lumma